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500 Dollar - oder 60 Tage?
23.01.2002 (GE 2/2002, Seite 69) Den besten Satz sprach Christoph Stölzl im Abgeordnetenhaus: „Klaus Wowereit, Peter Strieder, Klaus Böger: Um nichts in der Welt möchte ich heute in Ihrer Haut stecken.” Er meinte es strategisch, aber er lag auch taktisch richtig, denn kurz darauf erfolgten die Wahlgänge zum neuen Senat - das Ergebnis ist bekannt.
War die ganze Aufregung, waren die ätzenden Kommentare zur Wahl nur hysterisch oder war historisch, was sich da in den letzten drei Monaten abspielte? War es Kasperletheater - oder geriet da eine ganze 68er Generation ins Schleudern und aus der historischen Kurve? Vieles spricht für das letztere, denn die Bedenkenlosigkeit, mit der das Führungspersonal der SPD Geschichte und Identität der Partei (was schon schlimm genug ist), der ganzen Stadt Berlin (was ich mir verbitte) und schließlich des ganzen Landes (was hoffentlich im September bestraft wird) aufs Spiel setzte, zeugt von einer Amoralität, die in der schlimmen alten DDR sicher Führungsvoraussetzung war, die in der Demokratie jedoch noch immer ihre Quittung bekommen hat - mal früher, mal später. Denn merke: Zwischen wirtschaftlicher, sozialer und politischer Amoral gibt es Unterschiede nur nach Meinung der Betroffenen. Amoralisch war es, die Koalitionsverhandlungen mit FDP und Grünen als Ouvertüre zu spielen, der die (komische oder tragische) Oper mit der PDS folgen sollte. Amoralisch ist es, mit einer Partei zu koalieren, deren Identität weder demokratisch noch auf die Selbstverantwortung des Einzelnen abgestellt ist.

Zur Berliner Identität gehört die historische Mitte genauso wie das westliche Zentrum, die Trabanten- und Plattenbausiedlungen im Westen wie im Osten, die Altstädte Spandaus und Köpenicks, aber eben auch die Humboldt-Uni und die FU, die Charité und das Benjamin-Franklin, das Deutsche und das Schiller-Theater, die Staatsoper wie die Deutsche Oper, das Schloß Charlottenburg und das Stadtschloß.

Wer also das Benjamin-Franklin mal eben so wegputzen will, der stellt ja nicht nur den aktuellen Forschungsstandort Berlin in Frage, nein, er stellt die ganze FU zur Disposition, eine Universität, der viele Berliner oft kritisch gegenüberstanden, die aber - und das ist entscheidend - die Reaktion der freiheitlichen Demokratie auf die Vereinnahmung der Humboldt-Uni durch die Kommunisten war.
Wer den Palast der Republik verhüllen will, statt das Stadtschloß in der von der Kommission vorgeschlagenen Form wieder aufzubauen, dem fehlt es nicht nur an Vision, dem fehlt es auch an historischem Gedächtnis. Und wer schließlich das 1-Mrd.-Euro-Sparvolumen allein dadurch realisieren möchte, daß Verhandlungen mit den Gewerkschaften geführt werden, der verpaßt darüber die wahrlich visionäre Chance, das städtische Verwaltungssystem zu reformieren. Daß Freiheit, Selbstverantwortung und Wettbewerb entschiedene Elemente der staatlichen Ordnung sind, und daß diese auch bei den jetzt angesagten Reformen das Leitbild abgeben müssen, liegt doch auf der Hand.

Auch frühere Koalitionsverträge waren nicht eben aufregend zu lesen. Der jetzige, der neue Vertrag schafft es, seine Vorgänger an Inhalt zu unter-, an Langeweile zu überbieten. Der Vertrag ist lausig, er enthüllt die Urheber buchstäblich: Sie stehen nackt vor uns. Nacktheit ist jedoch in vielen Teilen der Erde strafbar. In St. Johns, Florida, zum Beispiel, „ist es Personen bei Geldstrafe von bis zu 500 $ oder Gefängnisstrafe von bis zu 60 Tagen verboten, sich nackt in der Öffentlichkeit zu zeigen.”
Was sollen sie nun kriegen, die Autoren des Koalitionsvertrages, 500 $ Strafe oder 60 Tage Bau? Ich bin für 500 $, die aber jeden Tag, den diese Koalition andauert. Das hilft, das Haushaltsdefizit zu mindern - und die Gefängnisse sind ohnehin überfüllt.
Autor: Dietmar Otremba