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TIT-FOR-TAT!
08.10.2001 (GE 19/2001, Seite 1285) Wie weit haben wir uns - oder haben wir uns überhaupt - aus den Höhlen entfernt? Oder anders gewendet: Wie dünn ist die zivilisatorische Schicht, auf der wir uns bewegen?
Wir befördern Menschen, sogar leibhaftige untrainierte Durchschnittsbürger wie Du und ich, in die Erdumlaufbahn oder auf einen Planeten. Wir schleusen fremde Gene in Zellen, duplizieren Lebewesen, schaffen neue, bisher unbekannte. Wir bauen Apparate und ersetzen damit Organe, wir schauen mit unseren Teleskopen in die Vergangenheit bis zum Entstehen des Universums und mit unseren Endoskopen in unser Innerstes. Und doch wissen wir nichts über uns. Denn wir entführen auch Flugzeuge, lenken sie mitleidlos in Wolkenkratzer und morden unterschiedslos jeden, der zur falschen Zeit am falschen Platz war.

Der „Faust“, das bedeutendste Stück Literatur in deutscher Sprache, beginnt mit folgenden Sätzen:
„Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin
Und leider auch Theologie
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
Da steh ich nun, ich armer Tor,
Und bin so klug als wie zuvor!“

Sie beschreiben das ganze Elend, in das Menschen Menschen mit den unfaßbaren Anschlägen in New York gestürzt haben, glaubten wir doch bis zu jenem 11. September 2001, daß uns die Evolution bis zur Schwelle der Moderne gebracht, dort abgesetzt und von da an der Kultur die Formung menschlichen Verhaltens überlassen habe.

Menschen haben zu allen Zeiten, um in Goethes Sprache zu bleiben, immer mit heißem Bemühn versucht zu ergründen, was den Menschen, der sich selbst den „Homo sapiens sapiens“, also den „sehr weisen Menschen“ nennt, vom Tier unterscheidet. Was unausgesprochen die Grundüberzeugung enthält, daß es essentielle Unterschiede gibt.

Lange war man der Überzeugung, die Fähigkeit zu lachen mache den Unterschied aus. Oder der aufrechte Gang. Oder die Anfertigung von Werkzeugen. Oder die Befähigung zur Sprache. Irrwege allesamt, gibt es doch eine Reihe von Tierarten, die dazu ansatzweise auch in der Lage sind.

Heute ist die Wissenschaft weithin der Auffassung, es sei unsere im Verhältnis zu anderen Lebewesen außergewöhnlich ausgeprägte Fähigkeit zu kooperativem Verhalten, unser „soziales Gehirn“, das uns eine Alleinstellung gebe und Garant für den Erfolg der Spezies sei. Nur kooperatives Verhalten, so fanden sie heraus, taugt als Langzeit-Überlebensstrategie - und wenn sich die Wissenschaft nicht ganz grundlegend täuscht, haben die Urheber der Untaten vom 11. September ganz schlechte Karten.

Der Wissenschaftler Robert Axelrod untersucht seit langem menschliches Verhalten und Überlebensstrategien mit Hilfe von Populationen aus „Critters“ (künstliche Lebewesen), die auf bestimmte Verhaltensweisen hin programmiert und dann aufeinander „losgelassen“ werden. Da gibt es Computervölker, die immer nur betrügen, es gibt welche, die den besten Moment zum Betrügen abpassen, und solche, die zufallbedingt betrügen, es gibt welche, die immer nur zusammenarbeiten, es gibt naive und böse Computerpopulationen – wen immer Axelrod gegeneinander antreten ließ, immer gewann eine Population mit dem Namen „Tit-for-tat“, was übersetzt nichts anderes heißt als „Wie-Du-mir-so-ich-Dir“.

„Tit-for-tat“ ist einfach programmiert: Es ist „nett“, es versucht nie, den Gegner zu schlagen, es schummelt nie als erster, es versucht weder zu täuschen noch zu betrügen noch Gewalt anzuwenden. „Tit-for-tat“ ist ein Anti-Machiavell, und seine Strategie ist transparent: Es kopiert schlicht den vorhergehenden Spielzug seines Mitspielers. Kooperiert der, kooperiert „Tit-for-tat“ auch, betrügt der, betrügt „Tit-for-tat“ auch. „Tit-for-tat“ ist freundlich, aber fest entschlossen, den weniger Netten rasch eins auf die Finger zu geben. Wird es provoziert, reagiert es sofort und damit auch klar. Es ist das alttestamentarische „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, das ja kein Racherezept, sondern nur die Forderung ist, den vorigen Spielzug des Mitspielers zu wiederholen. Und wie gesagt: „Tit-for-tat“ gewinnt am Ende immer.
Deshalb ist es richtig, nach Extremisten mit dem Netz der Rasterfahndung zu fischen und ihnen die Gunst überzogenen Datenschutzes ebenso zu entziehen wie ihre Verstecke hinter der Religionsfreiheit.

Der Schock vom 11. September wird andere Wirkungen haben, als seine Urheber es bezweckten: Wir wissen jetzt, daß nicht alle von uns schon aus den Höhlen sind, um die Eingangsfrage zu beantworten. Und daß die eigentliche Aufgabe staatlicher Gebilde immer noch darin besteht, die Bewohner der Ebene vor den Höhlenbewohnern des nahen Gebirges und den Höhlenbewohnern in den eigenen Reihen zu schützen.
Autor: Dieter Blümmel