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Berliner Café Psst schreibt (vorläufig) Rechtsgeschichte
Kein Widerruf der Gaststättenerlaubnis
23.02.2001 (GE 4/2001, 252) Im Wilmersdorfer Café Pssst! , das auch die Anbahnung der ältesten Dienstbarkeit der Welt ermöglicht, wird nach Auffassung des Berliner Verwaltungsgerichts nicht der Unsittlichkeit Vorschub geleistet, der Betrieb kann deswegen weitergeführt werden.
Der Fall: Im Café Psst kann man Kaffee trinken, man kann aber auch bei Lust und Laune in bereitgehaltenen Zimmern im hinteren Gebäudeteil etwas tun, worüber bisher Sittenwächter die Nase gerümpft haben. Das tat auch das zuständige Bezirksamt und wollte den Betrieb schließen.
Das Urteil: Das Verwaltungsgericht Berlin, 35. Kammer, hat den Widerruf der der Klägerin 1997 erteilten Gaststättenerlaubnis aufgehoben. Zur Begründung führte das Gericht aus, daß die Klägerin nicht im Sinne von § 4 Abs. 1 Nr. 1 des Gaststättengesetzes „unzuverlässig” sei. Zwar biete sie in ihrem Restaurant männlichen Freiern die Gelegenheit, Prostituierte kennenzulernen und leiste damit nach der bisherigen Rechtsprechung „der Unsittlichkeit Vorschub”, denn durch Prostitution werde - so bislang der Vorwurf der obersten deutschen Gerichte - der Intimbereich der Frau in für sie entwürdigender Weise vermarktet und die Triebhaftigkeit der Freier ausgebeutet; die personale Würde sei unverzichtbar und müsse der Gesellschaft auch ohne Rücksicht auf den Willen ihres Trägers angelegen sein. Daran könne in dieser Allgemeinheit nach Auffassung der 35. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin nicht mehr festgehalten werden. Vielmehr sei Prostitution, die ohne kriminelle Begleiterscheinungen (wie Menschenhandel, Zuhälterei, Drogenkonsum sowie Verstöße gegen Ausländerrecht und Jugendschutz) und insbesondere freiwillig unter Bedingungen ausgeübt werde, mit denen die Frauen einverstanden seien, heute grundsätzlich nicht mehr als sittenwidrig einzustufen.
Maßstab für den unbestimmten Rechtsbegriff der „Unsittlichkeit” seien nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die in der Rechtsgemeinschaft anerkannten sozialethischen Wertvorstellungen, die allerdings einem geschichtlichen Wandel unterworfen seien. Gerade im Bereich der menschlichen Sexualität habe in den vergangenen 50 Jahren eine besonders schnelle Veränderung der Wertvorstellungen stattgefunden. Zahlreiche Beispiele für eine heute nicht mehr nachvollziehbare Praxis ließen sich nennen, z. B. die Strafbarkeit von Kuppelei (Übernachtung der volljährigen Tochter mit ihrem Verlobten bei der Mutter) und Homosexualität zwischen erwachsenen Männern bis November 1973 oder die Entlassung von Beamten wegen Ehebruchs in den 50er Jahren.
Für die Frage, ob ein Beurteilungswandel stattgefunden habe, sei auf die Behördenpraxis, die Rechtsprechung und die von ihnen ausgelösten Reaktionen in der Öffentlichkeit sowie auf die Stellungnahmen von gesellschaftlich relevanten Organisationen und Verbänden abzustellen. Hinsichtlich der Behördenpraxis sei festzustellen, daß auch in Wilmersdorf Edelbordelle mit Getränkeausschank ohne kriminelles Umfeld in den letzten 20 Jahren bewußt geduldet wurden. Auch die Kriminalpolizei halte derartige Einrichtungen aus ihrer Sicht für wünschenswert, um dem Abgleiten der Branche in die organisierte Kriminalität entgegenwirken zu können. Das Presse-Echo auf die von der Kammer angeregte Aufhebung des Sofortvollzuges des Konzessionswiderrufs im Mai dieses Jahres sei durchweg positiv gewesen. Auch das Gesetzgebungsvorhaben der Bundesregierung zur Verbesserung der rechtlichen und sozialen Situation der Prostituierten erfahre in der Öffentlichkeit breite Zustimmung, wie eine Meinungsumfrage (August 1999: 68 %) sowie zahlreiche von der Kammer eingeholte Stellungnahmen von Organisationen und Verbänden belegten. Daß die Prostitution mit einem Jahresumsatz von etwa 12,5 Milliarden DM fest in das deutsche Wirtschaftsleben integriert sei, werde auch durch die Äußerungen der Berliner Industrie- und Handelskammer, des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks sowie des Industrie- und Handelstages belegt, die sich alle für eine gesetzliche Neuregelung zugunsten der Prostituierten ausgesprochen hätten. Selbst die christlichen Kirchen, die Prostitution aus moralischen Gründen weiterhin ablehnten, unterstützten weitgehend das Vorhaben der Bundesregierung zur Überwindung der rechtlichen und sozialen Benachteiligungen. So halte etwa die Caritas Berlin das Einschreiten der Behörden gegen die Einrichtung der Klägerin für „nahezu widersinnig.”
Nach alledem müsse davon ausgegangen werden, daß nach den heute vorherrschenden Wertvorstellungen in unserer Gesellschaft Prostitution zwar vielfach nicht als moralisch wertvoll eingeschätzt, aber zumindest als Teil unseres Zusammenlebens akzeptiert werde. Die Achtung des Grundrechts der Menschenwürde, das gerade gegen staatliche Eingriffe schützen solle, dürfte es gebieten, Prostituierte nicht gegen ihren Willen zu bevormunden. Damit verbiete es sich, Prostitution allgemein als eine „unsittliche“ Tätigkeit einzustufen, die zwingend die Schließung von Anbahnungs-Gaststätten erfordern würde.
Anmerkung: Das Urteil, dessen Wortlaut wegen des Umfanges nur auszugsweise abgedruckt werden kann, ist eine Dokumentation der Sittengeschichte bis in die moderne Zeit. Die Richter haben sich ausgesprochen große Mühe gegeben, den Sinnes- und Sittenwandel wissenschaftlich (was immer man darunter auch verstehen mag) zu untersuchen und die Abkehr von der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu begründen. Die Entscheidung ist sicher mutig und vertretbar. Ob damit allerdings tatsächlich ein Rechtsprechungswandel eingetreten ist, bleibt zweifelhaft. Denn für die allgemeine Praxis müssen - bei allem Respekt vor der Ent-scheidung des Verwaltungsgerichts - Urteile der höchsten deutschen Gerichte her. So dient das Urteil nur oder jedenfalls als Anstoß.
Vielleicht verwenden die VG-Richter genausoviel Zeit und Akribie demnächst auf die Frage, ob die Zweckentfremdungsverbot-VO noch gilt.
VG Berlin, Urteil vom 1. Dezember 2000 - VG 35 A 570.99 - Wortlaut GE 4/2001 Seite 281
Das Urteil: Das Verwaltungsgericht Berlin, 35. Kammer, hat den Widerruf der der Klägerin 1997 erteilten Gaststättenerlaubnis aufgehoben. Zur Begründung führte das Gericht aus, daß die Klägerin nicht im Sinne von § 4 Abs. 1 Nr. 1 des Gaststättengesetzes „unzuverlässig” sei. Zwar biete sie in ihrem Restaurant männlichen Freiern die Gelegenheit, Prostituierte kennenzulernen und leiste damit nach der bisherigen Rechtsprechung „der Unsittlichkeit Vorschub”, denn durch Prostitution werde - so bislang der Vorwurf der obersten deutschen Gerichte - der Intimbereich der Frau in für sie entwürdigender Weise vermarktet und die Triebhaftigkeit der Freier ausgebeutet; die personale Würde sei unverzichtbar und müsse der Gesellschaft auch ohne Rücksicht auf den Willen ihres Trägers angelegen sein. Daran könne in dieser Allgemeinheit nach Auffassung der 35. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin nicht mehr festgehalten werden. Vielmehr sei Prostitution, die ohne kriminelle Begleiterscheinungen (wie Menschenhandel, Zuhälterei, Drogenkonsum sowie Verstöße gegen Ausländerrecht und Jugendschutz) und insbesondere freiwillig unter Bedingungen ausgeübt werde, mit denen die Frauen einverstanden seien, heute grundsätzlich nicht mehr als sittenwidrig einzustufen.
Maßstab für den unbestimmten Rechtsbegriff der „Unsittlichkeit” seien nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die in der Rechtsgemeinschaft anerkannten sozialethischen Wertvorstellungen, die allerdings einem geschichtlichen Wandel unterworfen seien. Gerade im Bereich der menschlichen Sexualität habe in den vergangenen 50 Jahren eine besonders schnelle Veränderung der Wertvorstellungen stattgefunden. Zahlreiche Beispiele für eine heute nicht mehr nachvollziehbare Praxis ließen sich nennen, z. B. die Strafbarkeit von Kuppelei (Übernachtung der volljährigen Tochter mit ihrem Verlobten bei der Mutter) und Homosexualität zwischen erwachsenen Männern bis November 1973 oder die Entlassung von Beamten wegen Ehebruchs in den 50er Jahren.
Für die Frage, ob ein Beurteilungswandel stattgefunden habe, sei auf die Behördenpraxis, die Rechtsprechung und die von ihnen ausgelösten Reaktionen in der Öffentlichkeit sowie auf die Stellungnahmen von gesellschaftlich relevanten Organisationen und Verbänden abzustellen. Hinsichtlich der Behördenpraxis sei festzustellen, daß auch in Wilmersdorf Edelbordelle mit Getränkeausschank ohne kriminelles Umfeld in den letzten 20 Jahren bewußt geduldet wurden. Auch die Kriminalpolizei halte derartige Einrichtungen aus ihrer Sicht für wünschenswert, um dem Abgleiten der Branche in die organisierte Kriminalität entgegenwirken zu können. Das Presse-Echo auf die von der Kammer angeregte Aufhebung des Sofortvollzuges des Konzessionswiderrufs im Mai dieses Jahres sei durchweg positiv gewesen. Auch das Gesetzgebungsvorhaben der Bundesregierung zur Verbesserung der rechtlichen und sozialen Situation der Prostituierten erfahre in der Öffentlichkeit breite Zustimmung, wie eine Meinungsumfrage (August 1999: 68 %) sowie zahlreiche von der Kammer eingeholte Stellungnahmen von Organisationen und Verbänden belegten. Daß die Prostitution mit einem Jahresumsatz von etwa 12,5 Milliarden DM fest in das deutsche Wirtschaftsleben integriert sei, werde auch durch die Äußerungen der Berliner Industrie- und Handelskammer, des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks sowie des Industrie- und Handelstages belegt, die sich alle für eine gesetzliche Neuregelung zugunsten der Prostituierten ausgesprochen hätten. Selbst die christlichen Kirchen, die Prostitution aus moralischen Gründen weiterhin ablehnten, unterstützten weitgehend das Vorhaben der Bundesregierung zur Überwindung der rechtlichen und sozialen Benachteiligungen. So halte etwa die Caritas Berlin das Einschreiten der Behörden gegen die Einrichtung der Klägerin für „nahezu widersinnig.”
Nach alledem müsse davon ausgegangen werden, daß nach den heute vorherrschenden Wertvorstellungen in unserer Gesellschaft Prostitution zwar vielfach nicht als moralisch wertvoll eingeschätzt, aber zumindest als Teil unseres Zusammenlebens akzeptiert werde. Die Achtung des Grundrechts der Menschenwürde, das gerade gegen staatliche Eingriffe schützen solle, dürfte es gebieten, Prostituierte nicht gegen ihren Willen zu bevormunden. Damit verbiete es sich, Prostitution allgemein als eine „unsittliche“ Tätigkeit einzustufen, die zwingend die Schließung von Anbahnungs-Gaststätten erfordern würde.
Anmerkung: Das Urteil, dessen Wortlaut wegen des Umfanges nur auszugsweise abgedruckt werden kann, ist eine Dokumentation der Sittengeschichte bis in die moderne Zeit. Die Richter haben sich ausgesprochen große Mühe gegeben, den Sinnes- und Sittenwandel wissenschaftlich (was immer man darunter auch verstehen mag) zu untersuchen und die Abkehr von der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu begründen. Die Entscheidung ist sicher mutig und vertretbar. Ob damit allerdings tatsächlich ein Rechtsprechungswandel eingetreten ist, bleibt zweifelhaft. Denn für die allgemeine Praxis müssen - bei allem Respekt vor der Ent-scheidung des Verwaltungsgerichts - Urteile der höchsten deutschen Gerichte her. So dient das Urteil nur oder jedenfalls als Anstoß.
Vielleicht verwenden die VG-Richter genausoviel Zeit und Akribie demnächst auf die Frage, ob die Zweckentfremdungsverbot-VO noch gilt.
VG Berlin, Urteil vom 1. Dezember 2000 - VG 35 A 570.99 - Wortlaut GE 4/2001 Seite 281