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Angela Merkel und aufgedruckte kleine Tierchen in den Pinkelbecken
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06.10.2014 (GE 18/2014, S. 1154) Seit vielen Jahren habe ich in dieser Kolumne, aber auch in Vorträgen immer wieder darauf hingewiesen, dass nach den Erkenntnissen der anthropologischen Wissenschaften eine massive Verunsicherung Ausgangspunkt von Aggressionen ist, und dass wir uns im Alltagsleben wie in der Politik die Erkenntnisse der Verhaltensforschung leider viel zu wenig zunutze machen.
Aber nun gibt es einen Silberstreif am Horizont. Kürzlich war im SPIEGEL unter der Überschrift „Alchemie im Kanzleramt“ ein Beitrag zu lesen, wonach ANGELA MERKEL seit einigen Monaten in einem Projekt eine Reihe von Spitzenbeamten und Wissenschaftlern beschäftigt, um die Erkenntnisse der Verhaltensforschung für die praktische Politik nutzbar zu machen. Klar, dass der defätistische SPIEGEL sofort schrieb, die Regierung entwickele „Psychotricks, um die Bürger zu lenken“ und die Frage stellte: „Ist das Verfahren die bessere Regulierung oder eine besonders hinterhältige Form der Gängelei?“ Die Art von Bedenkenträgern hat es vermutlich bei allen Erfindungen und Verwendung neuer Erkenntnisse gegeben – ein Rad kann uns schneller fortbewegen, aber auch überrollen, Feuer kann uns wärmen, aber auch verbrennen. Uns die Erkenntnisse der Verhaltensforschung zunutze zu machen, heißt aber zunächst nur:
den Menschen so zu nehmen, wie er
ist, statt ihn nach unseren Wünschen zu formen. Im Kleinen gibt es viele Beispiele dafür, um wie viel besser das Zusammenleben funktioniert, wenn wir uns so akzeptieren, wie wir sind. Seit einigen Jahren findet man in den Pinkelbecken von Herrentoiletten aufgedruckte kleine Tierchen – Spinnen, Fliegen, etwas in der Art – als Ziel für den Strahl. Seitdem geht an den Urinalen bis zu 80 % weniger daneben, die Reinigungskosten sanken. Am Kopenhagener Flughafen, wo wie überall Rauchverbot gilt, drängelten sich die Raucher direkt vor den Eingängen, weshalb man dort die Aschenbecher entfernte und Rauchverbotsschilder aufstellte mit dem Erfolg, dass dort noch mehr Kippen am Boden lagen. Darauf ersetzte man die Verbotsschilder durch Hinweisschilder auf nahegelegene und markierte Raucherzonen. Die Zahl der Raucher vor den Eingängen halbierte sich schlagartig. Das sind nur zwei von weltweit inzwischen vielen Beispielen, wie man sich die Erkenntnisse der Verhaltens- und Gehirnforschung zunutze machen kann. Hierzulande macht die Politik davon noch kaum Gebrauch. Die Wohnungspolitik ist das beste Beispiel dafür. Das lange Gerede über ein Verbot der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen beispielsweise hat nur dazu geführt, dass die Zahl der Umwandlungen sprunghaft gestiegen ist und ein ungesund hoher Anteil (über 40 %) der Neubauwohnungen als Eigentumswohnungen errichtet werden. Das Vorhaben „Mietpreisbremse“ hat den Mietanstieg im Bestand kurzfristig noch einmal wesentlich beschleunigt. Die Kappung der Modernisierungsumlage würde dazu führen, dass die Quote der energetischen Modernisierungen sinkt. All das ist, wenn man weiß, wie Menschen auf Bedrohungen und Unsicherheit reagieren, vorhersehbar. Und wer Menschen in zentralen Bereichen – Arbeit, Rente und Krankenversicherung – die Sicherheit nimmt, wie in den vergangenen Jahrzehnten geschehen, darf sich nicht wundern, wenn sie die Ellbogen ausfahren und die Gesellschaft sich entsolidarisiert.
Autor: Dieter Blümmel