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BSR: OVG-Urteil zur Einsicht in Tarifunterlagen liegt vor
Lückenloser Einblick in Tarifkalkulation – Geheimhaltungsinteresse ist nachrangig
26.12.2007 (GE 24/2007, 1663) Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hat am 2. Oktober 2007 – wie bereits berichtet – der Klage von Haus & Grund Berlin auf Einsichtnahme in die Kalkulationsunterlagen der Berliner Stadtreinigungsbetriebe (BSR) einschränkungslos stattgegeben. Vor dem VG Berlin war der Dachverband der Berliner Grundstückseigentümer noch unterlegen. Jetzt liegt die schriftliche Begründung des Urteils vor. Die Entscheidung enthält, wenn das Land Berlin und die BSR sie ernstnehmen, keinerlei Rückzugsmöglichkeiten mehr. Das OVG betont ganz ausdrücklich die Notwendigkeit einer "außerstaatlichen Kontrolle" der Tarifgestaltung.
Der Fall: Haus & Grund Berlin hatte Anfang 2001 bei der Senatsverwaltung für Wirtschaft Einsicht in die dort geführten Akten zur Genehmigung der von den BSR beauftragten derzeitigen und künftigen Gebühren für die Abfallentsorgung und Straßenreinigung einschließlich der Kalkulationsunterlagen gefordert. Die Senatsverwaltung verweigerte das zunächst, gestattete aber im Widerspruchsverfahren Teileinsicht. Ein Teil der Unterlagen wurde geschwärzt, weil sie angeblich Geschäftsgeheimnisse der BSR bergen, die nach dem Berliner Informationsfreiheitsgesetz nicht offenbart werden müssen. Gegen den Widerspruchsbescheid klagte Haus & Grund Berlin vor dem Berliner Verwaltungsgericht. Wenige Tage vor der mündlichen Verhandlung ließ die Senatsverwaltung für Wirtschaft die Akten wieder zu den BSR zurückschaffen und erklärte, Akteneinsicht könne mangels Vorliegens der Akten nicht (mehr) gewährt werden. Dieser Argumentation folgte das Verwaltungsgericht Berlin in seiner Entscheidung vom 10. Mai 2006 (GE 2006, 785). Gegen diese Entscheidung legte Haus & Grund Berlin Berufung zum OVG Berlin-Brandenburg ein. Das OVG hob die Entscheidung des VG auf und gewährte einschränkungslos Akteneinsicht.

Das Urteil: Das OVG hat sich – anders als das Berliner Verwaltungsgericht – nicht auf das von der Behörde praktizierte "Hase-und-Igel-Spiel" eingelassen. Akten und Aktenbestandteile, die ersichtlich für die Entscheidung der Behörde von Bedeutung sein können oder die die Behörde selbst ihrer Entscheidung zugrunde legen will oder legt, gehörten zum Verwaltungsvorgang und seien nicht lediglich dessen "Beiakten". Der Anspruch auf Einsicht nach dem Berliner Informationsfreiheitsgesetz auf solche Akten gehe auch nicht dadurch unter, daß Akten zurückgegeben würden.
Ein schutzwürdiges Geheimhaltungsinteresse der BSR bestehe auch nicht. Sie sei zwar, u. a. durch privat-rechtlich organisierte Tochterunternehmen, am Wettbewerb beteiligt, habe aber aufgrund des bestehenden Anschluß- und Benutzungszwangs eine Monopolstellung bei der Beseitigung von Abfällen und bei der Straßenreinigung in den Reinigungsklassen A und B.
Eine Geheimhaltungsbedürftigkeit der Daten, die die hoheitliche Tätigkeit beträfe, sei wenig plausibel. Auch sei nicht nachvollziehbar, daß eine Offenbarung der Preiskalkulation des hoheitlichen Bereiches die wettbewerbliche Position der BSR schwächen würde.
Aber selbst wenn man ein Geheimhaltungsinteresse unterstellen, ja sogar wenn ein "nicht unwesentlicher Schaden" für die BSR durch die entsprechende Veröffentlichung der Kalkulationsdaten annehmen müßte, sei das Informationsinteresse (eines jeden Berliners) "in jedem Fall" höher zu bewerten. Das Informationsfreiheitsgesetz wolle durch ein umfassendes Informationsrecht u. a. eine Kontrolle des staatlichen Handelns fördern. Der Bürger müsse sein Einsichtsbegehren nicht begründen oder ein berechtigtes Interesse nachweisen. Auf die Motivation des jeweiligen Antragstellers komme es nicht an.
Das Schwergewicht der Geschäftstätigkeit der BSR liege im Monopolbereich, der mit einem deutlich kleineren Wettbewerbsteil verknüpft sei. Die BSR seien deshalb einer Kontrolle durch Marktmechanismen entzogen. Einziges Kontrollinstrument sei das Tarifgenehmigungsverfahren durch das Land Berlin, wobei der Aufsichtsrat der BSR über die Festsetzung der Tarife entscheide. Schon der Berliner Rechnungshof habe moniert, daß der Senator für Wirtschaft einerseits Aufsichtsratsvorsitzender der BSR und andererseits als Mitglied des Senats auch für die Genehmigung der Entgelte für Müllabfuhr und Straßenreinigung verantwortlich sei. Der Rechnungshof habe darin eine erhebliche Gefahr von Kollisionen der Interessen der Anstalten und des Landes einerseits sowie der Gebührenzahler andererseits gesehen. Wörtlich heißt es dann in der Entscheidung:
"Angesichts der beschriebenen Grundkonstellation erscheint die Möglichkeit einer außerstaatlichen Kontrolle in jedem Fall geboten, da zumindest eine gewisse Interessenkollision auf seiten des Landes Berlin nach wie vor nicht gänzlich ausgeschlossen sein dürfte."
Am selben Tag entschied das OVG im übrigen auch zwei vergleichbare Verfahren, die der Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU) gegen die Berliner Wasserbetriebe (BWB) geführt haben (OVG 12 B 11.07 und OVG 12 B 12.07).

OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 2. Oktober 2007 - OVG 12 B 9.07 - Wortlaut Seite 1697


Chronologie

21.2.2001: Haus & Grund Berlin stellt Antrag auf Akteneinsicht in BSR-Tarifkalkulation für 1999 bis 2002 nach dem IFG Bln.
21.3.2001: Wirtschaftssenator genehmigt neue BSR-Tarife erstmalig (!) unter der Auflage, daß Tarife 1999/2000 nachkalkuliert werden müssen. BSR wehrt sich vergebens dagegen (vgl. GE 22/2002, 1452).
7.3.2001: Wirtschaftssenator verweigert Einsichtnahme überwiegend, Widerspruchsverfahren.
27.2.2002: Akteneinsicht wird gewährt, Teile der Akten sind geschwärzt. Von Haus & Grund beauftragter Controller entdeckt u. a. überhöhte Rückstellungen für Deponiesanierung. Seine Schätzung: 250 Mio. € zuviel. Haus & Grund drängt seitdem auf Teilauflösung der Rückstellungen und beschreitet Klageweg wg. der Aktenschwärzung.
17.10.2002: "Guskys Beichte" – die BSR haben vier Jahre lang Teile der Straßenreinigungskosten doppelt berechnet und müssen den Kunden 66 Mio. € zurückzahlen (vgl. GE 22/2002, 1452; 10/2003, 643).
31.1.2003: BSR erklären sich bereit, den Kunden Zinsen auf Deponierückstellungen gutzuschreiben, schließlich auch knapp 200 Mio.€ in den Tarifperioden der nächsten fünf Jahre tarifsenkend zu verrechnen.
10.5.2006: VG Berlin weist Klage von Haus & Grund – nach sechsjähriger Verfahrensdauer (!!!) ab (GE 2006, 785), nachdem Senatsverwaltung die Akten "verschwinden" ließ.
2.10.2007: OVG Berlin-Brandenburg gibt Berufung von Haus & Grund einschränkungslos statt und verurteilt Behörde zur Aktenwiederbeschaffung.
Verfahrensergebnis bis jetzt: Haus & Grund hat den Berlinern gut 250 Mio.€ zuviel gezahlte Entgelte für Müll und Straßenreinigung wiederbeschafft!