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Gedächtnisschwund - ein Phänomen der Neuzeit?
29.05.2007 (GE 10/2007, Seite 672) Noch vor 30 Jahren wurde das aktuelle Lebensgefühl von Menschen geprägt durch Erfahrungen und Erinnerungen aus den davorliegenden vier, fünf Jahren. Man konnte sich an Filme erinnern, die man in diesem Zeitraum gesehen hatte, an Geburtstage, die man gefeiert hatte, an Reisen, die man unternommen hatte.
Heute ist dieser aktive Erinnerungsbereich, der das jeweils gegenwärtige Lebensgefühl wesentlich bestimmt, auf ein paar Wochen zusammengeschrumpft. An Davorliegendes erinnert man sich nur, wenn es außerordentlich einschneidend war. Soziologen bezeichnen diesen Vorgang als "Gegenwartsschrumpfung". Sie schafft ein Schlaraffenland für Politiker, weil sich kaum ein Bürger in vier Wochen noch daran erinnert, was heute versprochen wurde. Aber auch andere profitieren von der "Gegenwartsschrumpfung" kürzlich war es die Vorstandsvorsitzende der BSR, Vera Gäde-Butzlaff. In einem Gespräch mit dem Berliner Tagesspiegel durfte sie unkorrigiert sagen, daß die BSR im laufenden Jahr trotz Mehrwertsteuererhöhung keine Anhebung der Müllgebühren planen. Das Homerische Gelächter der Redakteure blieb ebenso aus wie die notwendige Kommentierung dieser Behauptung. Warum? Weil die Anhebung der Entgelte für Müllabfuhr und Straßenreinigung zum 1. Januar 2007 (bei der die sattsam bekannte Mehrwertsteuererhöhung natürlich längst eingepreist war) nun schon drei Monate her war und damit außerhalb des gegenwartsgeschrumpften Erinnerungsbereiches lag. Bleibt zu hoffen, daß auch die Kollegen von den Tageszeitungen angesichts der Gegenwartsschrumpfung erkennen, daß Archivarbeit künftig noch wichtiger wird.
Autor: Dieter Blümmel