Grundeigentum-Verlag GmbH
grundeigentum-verlag
Verlag für private und unternehmerische Immobilien
Anzeige

Archiv / Suche


Berlin Wahl 2006
Berlin wählt Matroschka
29.09.2006 (GE 18/06, Seite 1126) Berlin hat gewählt. Halb Berlin jedenfalls. 42 % der Wahlberechtigten gingen erst gar nicht hin. Das zeigt, wie groß die Unzufriedenheit der Berliner mit jenen ist, die in den kommenden fünf Jahren die Landespolitik bestimmen sollen.

Berlin Wahl 2006

Ob die Sozialdemokraten mit 30,8 % (+ 1,1 Prozentpunkte gegenüber 2001) nun dafür sorgen, daß durch die notwendige Verbesserung der schulischen Ausbildung wenigstens die Jungwähler in fünf Jahren in die Lage versetzt werden auszurechnen, daß nur noch 17,86 % aller Wahlberechtigten den Sozialdemokraten die Stimme gegeben haben?
Der Stimmenzuwachs der Grünen um 4,0 Prozentpunkte auf 13,1 % war, auch in dieser Größenordnung, erwartet worden. Ebenso, daß die Linkspartei.PDS unter die Räder kommen würde. Ihr Verlust von 9,2 Prozentpunkten auf nur noch 13,4 % ist zum einen der noch linkeren WASG (die 2,9 Prozentpunkte der PDS-Klientel abgriff) zu verdanken, zum anderen, daß ihr alles in allem systemkonformes Auftreten keine Gnade vor dem Angesicht der Altkommunisten fand und die Partei sich auch noch in wichtigen Fragen – etwa beim Straßenbaubeitragsgesetz – ihrer gut organisierten Klientel verweigerte.
Beinahe glücklich gebärdete sich am Wahlabend die CDU. Zwar führten Einbußen von 2,5 Prozentpunkten die Christdemokraten auf ihr historisches Tief von 21,3 % bei Gesamtberliner Wahlen, aber man merkte den Funktionären an, daß sie trotz realitätsferner Zuversicht vor dem Wahlabend erleichtert waren, daß eine Zwei vor ihrem Wahlergebnis stand.
Die FDP dagegen hatte nicht weniger befürchtet, sondern mehr erwartet. Ihren Fraktionsvorsitzenden Lindner, der sich nicht zu Unrecht als einzig wahrgenommener Oppositionsführer fühlen durfte, hat der Rückgang um 2,3 Prozentpunkte auf 7,5 % besonders geschmerzt.
Hauptgewinner neben den Grünen ist Klaus Wowereit, nicht die SPD. Die Berliner haben in erster Linie die Wundertüte Wowereit („Wenig Brot, viel Spiel„, wie der SPIEGEL spöttelte) gewählt. Eine politische Matroschka. Du machst sie auf, um an den Kern zu kommen, und findest nur immer neue Hohlkörper. Niemand weiß, wofür er – außer für sich – steht.
Mit wem Wowereit koaliert, ist deshalb erst einmal offen. Beide seiner Optionen – rot/rot oder rot-grün – sind keineswegs so verführerisch, wie der SPD-Vormann uns glauben lassen möchte, sondern kommen eher mit Giftpfeilen im Gewande daher. Die Grünen gehen mit stolzgeschwellter breiter Brust in die Sondierungsgespräche, wollen mehr bürgerliche Elemente einbringen, als dem Regierenden vor allem mit Blick auf den Ostteil der Stadt (wo die SPD groß aufgeholt hat) lieb sein kann. Die PDS fühlt sich so von Wowereit überwölbt, daß sie ihre Rolle künftig eher als Stachel im Fleisch einer rot-roten Koalition begreifen wird, will sie nicht als reine Funktionspartei zur Beschaffung jeweils linker Mehrheiten verkommen. Keine rosigen Aussichten also für einen, der Ruhe an der Heimatfront für den geplanten Aufstieg in den bundesdeutschen politischen und gesellschaftlichen Sternenhimmel braucht.
Die neue Opposition – wie immer sie sich in den kommenden fünf Jahren zusammensetzen wird – wird sich die Frage zu stellen haben: „Was nun tun?„
Vor allem eines: Einmal völlig anders und neu denken. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein schrieb einst „Die Grenzen unseres Denkens sind die Grenzen unserer Welt.„
Schon immer ist es üblich, daß Parteien, die gemeinsam eine Regierung bilden, eine Koalitionsvereinbarung schließen. Warum, in drei Teufels Namen, macht das die Opposition nicht?
Wenn es stimmt, was alle Parteien gebetsmühlenartig wiederholen, daß prinzipiell alle Parteien miteinander koalieren können, dann muß es auch möglich sein, eine Koalition in der Opposition zu bilden mit dem Ziel, die Regierung abzulösen.
Selbst Spezies, die nicht ganz oben auf der Evolutionsskala der Intelligenz stehen wie Kormorane oder Wölfe, jagen gemeinsam und nicht getrennt.
Schnittmengen für gemeinsame Aktionen lassen sich in der Opposition finden, so wie sie sich auch in einer Regierungskoalition finden lassen müssen. Wo sich die Opposition in der letzten Legislaturperiode einig war und nach außen einig auftrat – Beispiel Straßenbaubeitragsgesetz oder Eigenbetriebe –, wurde sie auch wahrgenommen. Drei, maximal vier Themenfelder reichen aus, um Wowereit – mit wem immer er koaliert – das Fürchten zu lehren.
Eigentlich ist der Abschluß eines Oppositions-Koalitionsvertrages trivial, liegt aber außerhalb der bisherigen Denkgrenzen. Der Einwand, Koalitionsverträge mit all ihren Kröten würden nur geschluckt, um die Regierung stellen zu können, liegt neben der Sache, denn ein Oppositions-Koalitionsvertrag würde denselben Zweck verfolgen.
Die Berliner CDU freilich täte gut daran, zuvor und als erstes ihre wichtigste Altlast zu beseitigen. Die hört auf den Namen Ingo Schmitt, ist CDU-Landesvorsitzender und im gesamten Wahlkampf dadurch aufgefallen, daß er unsichtbar blieb – was die Christdemokraten vielleicht vor dem Sturz unter die 20-%-Grenze bewahrt hat.
Autor: Dieter Blümmel