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Die Grenzen des guten Geschmacks
Regine Paschkes (VRi'inLG) unjuristische Betrachtungen
08.05.2006 (GE 09/06, Seite 521) „Über Geschmack läßt sich nicht streiten“, pflegte meine Großmutter in wissentlicher Übereinstimmung mit dem Volksmund zu sagen. Volksmund und Großmutter ahnten nicht, daß es sich hervorragend – jedenfalls unter Juristen – darüber streiten läßt … Bis zu acht (!) juristische Vollprofis können damit beschäftigt sein, im Verlaufe zweier gerichtlicher Instanzen über „den normalen Geschmack“ zu befinden. Selbst im Mietrecht kann er im Zentrum eines Rechtsstreits stehen.

Die Grenzen des guten Geschmacks

Zwar hatte die Autorin selbst bereits Prozesse über Randerscheinungen des Geschmacks zu entscheiden – so stellt sich auch zwischen Vermieter und Mieter aus Anlaß eines geplanten Herdaustauschs gelegentlich die (unter Profiköchen seit Jahrzehnten diskutierte, bis heute aber unentschieden gebliebene) Frage, welche Kochenergie – Gas oder Strom – zur Herstellung wohlschmeckender Speisen die einzig richtige sei. Auch waren sich Kontrahenten schon gerichtsnotorisch uneins darüber, ob die – technisch bedingte und vorübergehende – Reduzierung des Fernsehkabelempfangs auf die Sender RTL 2, VOX und PRO SIEBEN eine nicht unerhebliche Wohnwertbeeinträchtigung mit der Folge einer geminderten Miete oder doch bloß eine unbeachtliche Fokussierung auf die sowieso einzig wahre Abendunterhaltung darstellt.
Das aber sind nur Lappalien im Vergleich zu einem Rechtsstreit über den Kern des mietrechtlichen Geschmacks: Wenn der Mieter die Wohnung bei Ende des Mietverhältnisses zwar frisch renoviert an den Vermieter herausgibt, dabei jedoch von dem Wunsch getragen wird, den verlassenen Räumlichkeiten seinen ganz eigenen Stempel aufzudrücken, dann kann es passieren, daß hierbei Grenzen überschritten werden. Denn: „Grundsätzlich ist ein Mieter in der geschmacklichen Ausgestaltung der Mieträume zwar weitgehend frei, er darf dabei aber nicht die Grenzen des normalen Geschmacks in einer Weise überschreiten, daß eine Neuvermietung der Räume in dem geschaffenen Zustand praktisch unmöglich ist (KG 8 U 211/04 vom 9.6.2005 = GE 2005, 917 m. w. N.).
Nun sind Grenzüberschreitungen im Zeitalter der Globalisierung zwar nicht generell zu mißbilligen, im vorzitierten Fall allerdings hatte der scheidende Mieter einen Raum „gelb gestrichen und mit einem zweifarbig braunen Muster versehen“ (KG a. a. O.), was im Ergebnis – auch wegen einer moosgrün hinterlassenen Küche – zu einem Schadensersatzanspruch des Vermieters führte und in betroffenen Kreisen die Frage aufwirft, wo genau sich „die Grenzen des normalen Geschmacks“ befinden.
Denn den Vermieter plagen Zweifel: Ist die Rauhfasertapete vom Mieter schlicht nicht deckend gestrichen oder handelt es sich um die im Heimwerkerkurs des ortsansässigen Baumarkts erlernte Wischtechnik? Wurde die Küchentür im Eiltempo lackiert, oder sind die Farbstreifen Teil eines Ornaments? Handelt es sich bei den kleinen Buckeln auf dem Fensterrahmen um Farbnasen oder Intarsien?
Zahlreiche Künstler wurden zu Lebzeiten nicht geschätzt, posthum hingegen hoch geehrt. Für manche Neuerscheinung in der Kunst sind Zeit und -genossen schlicht noch nicht reif. Wird mithin aus nachlässig durchgeführten Schönheitsreparaturen durch Zeitablauf irgendwann von selbst Kunst?
Da sich – wie gesehen – sehr wohl über Geschmack streiten läßt, ist nicht auszuschließen, daß derartige Mietrechtsstreitigkeiten demnächst unter richterlicher Zuhilfenahme von sachverständigen Kunstprofessoren und/oder Statistikern geführt werden, die – je nach vorgefundenem Machwerk – darüber zu befinden haben, ob es sich bei der mit Harry-Potter-Motiven verzierten Bordüre im Kinderzimmer (vgl. hierzu: LG Berlin GE 2005, 867) um anerkannte naive Malerei, infantilen Massenkonsens breitester Bevölkerungskreise oder doch nur industriell irregeleitetes ästhetisches Empfinden handelt.
Was letztlich bleibt, ist der Rückgriff nicht auf den (irrenden) Volksmund oder die (verstorbene) Großmutter, sondern die (stets tröstliche) Philosophie:
"Der Geschmack ist allen Menschen natürlich, sie haben ihn aber nicht alle in gleichem Maße ..." (Jean-Jacques Rousseau, Emile).
Autor: VRi’inLG Regine Paschke