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Stammtischgerede
18.07.2002 (GE 14/02, Seite 881) Daß derjenige Wahlen gewinnt, der die Lufthoheit über den Stammtischen hat, ist ein grober Spruch mit einem wahren Kern.
In der Kneipe, in Restaurants und auf Partys werden Stimmungen gemacht, die zuweilen sogar in der Bildzeitung ihren Niederschlag finden (z. B. „Schämt Euch“ - da weiß man dann, daß Deutschlands Fußball-Millionäre mal wieder verloren haben), die aber eben auch auf Wahlen durchschlagen können. Wer immer schon jetzt vom Wahlsieg träumt, sollte daher vorsichtig sein und die Ohren nicht auf Durchzug stellen, wenn das Schwätzen bei Wein und Bier so richtig in Fahrt kommt.

Im Süden und Südwesten der Republik sind 5 bis 6 % der Leute arbeitslos, im Osten sind es 16 bis 18 %, also dreimal so viele. Während der westliche Arbeitsmarkt in Teilen wie leergefegt wirkt, erhalten die Jungen im Osten Prämien vom Arbeitsamt, wenn sie im Westen einen Job annehmen - und abwandern. Die Dörfer leeren sich, die Kassen der Finanzminister werden schwindsüchtig und die betroffenen Regierungen in den Ländern wissen sich schon lange keinen Rat mehr.

Und eben da muß wieder an den Stammtisch erinnert werden. Ich hatte kürzlich so ein Gespräch - nicht in der Kneipe, sondern auf der Terrasse eines Clubrestaurants. Da saß er, der Volksgenosse im grünen Südwesten, Pensionär schon seines Zeichens und immer noch der klassische Mittelständler. Die im Osten, die würden ja nur jammern, so sprach er, man erinnere sich an den Griesgram Höppner. Aber der sei doch gerade abgewählt worden, erwiderte ich, vielleicht genau deswegen? Spiele keine Rolle, sagte der andere, der Nachfolger, der Böhmer, sei auch nicht besser. Aber es gebe doch definitiv Qualitätsunterschiede, werfe ich ein, Biedenkopf z. B. … Ha, ha, also der, so tönt es, der habe doch so was von Geschichten gemacht, also man solle doch aufhören, mit dem zu renommieren. Aber er möge doch mal bedenken, daß die ganze Industrie weggebrochen sei im Osten, auch in Berlin, in West-Berlin, sage ich … Na ja, dieses West-Berlin habe ja sowieso immer am Tropf gehangen, erwidert er, und jetzt sei der Umbruch gekommen, und alle hätten dicke verdient mit den Abschreibungen, und wenn jetzt die Sachen leer stünden, dann sei das zwar auch nicht schön, aber andererseits verdiente Strafe. Und bei all dem vielen Geld, das rüber in den Osten fließe, sei hier keins mehr übrig, um die Straßen zu reparieren, entrüstet er sich. Ein Skandal sei das! Ob er denn schon mal im Osten, in Berlin z. B., gewesen sei, frage ich, um all sein schönes Geld, das dort hingeflossen sei, zu besichtigen? Nein, das nicht, in Berlin sei er noch nie gewesen, wegen der großen Entfernung, das sei ja fast so weit wie Sibirien, ha, ha, nicht buchstäblich natürlich, aber doch so ein bißchen, ich verstünde schon. Wie viele Kilometer es denn wirklich seien, fragt er dann doch noch. 800 km, sage ich. Und er: Na bitte. Und wie reise man am besten? Ich verweise auf die Bahn! Aha, mit der ginge es also schon so schnell, na sieh mal einer an, das könne man ja direkt mal überlegen! Aber erst würde er doch noch mit seiner Frau nach Italien fahren, Gardasee, Mailand, Abano - das ginge halt doch schneller und man kenne die Gegend.
Keine leichte Sache, dieser Wahlkampf. Hält man die Deutschen nicht im Osten, drohen uns verlassene Dörfer wie in der Bretagne oder wie in Süd-Italien. Springt die Konjunktur nicht an, geht vielleicht auch die Chipfabrik in Frankfurt (O.) pleite, noch bevor sie fertig ist. Und macht man den Stammtischstrategen nicht Netto-Geschenke an der Binnenfront (wie wär’s mit steigenden Aktien und sinkenden Steuern?), so wird es nichts mit Wahlsieg, nichts mit Regierungswechsel, nichts mit Reformen und nichts mit dem deutschen Osten!

Regieren macht Spaß? Richtig! Deswegen haben wir ja auch diese Spaßgesellschaft, die in Wahrheit zum Heulen ist. Sollen wir deshalb verzagt sein? Aber mitnichten - der Lothar wird’s schon richten.
Autor: Dietmar Otremba